Jüdisches Leben – Lion Wohlgemuth

2024_04

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Er war jüdischer Feuerwehrmann und Opfer des NS-Regimes. Die Schicksale jüdischer Feuerwehrleute und die Geschichte der Feuerwehr im Dritten Reich sind vielerorts bis heute kaum erforscht. Ist dies immer noch ein Tabu?


Erschienen in: FEUERWEHR Ausgabe 5/2019

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Eine gute Einschätzung zur Situation der Feuerwehren im Dritten Reich und der geschichtlichen Aufarbeitung gab Dr. Daniel Leupold vom vfdb-Referat 11 (Brandschutzgeschichte) im Vorwort zum Tagungsband 2012 „Zwischen Gleichschaltung und Bombenkrieg“: „Kaum eine Epoche hat die deutschen Feuerwehren derart geprägt wie die Zeit des Nationalsozialismus. Die Feuerwehren wurden einerseits fest in ein Unrechtssystem eingebunden und Stütze der NS-Diktatur, andererseits erfuhren die Feuerwehren in Vorbereitung auf den Krieg eine enorme Modernisierung und Weiterentwicklung. Ab 1938 wurden die Feuerwehren reichsweit vereinheitlicht. Einheitliche Gesetz- und Verordnungsgebung, Uniformen, Dienstgrade, Ausrüstungsvorgaben, Ausbildungsvorschriften und Typenreduzierung von Fahrzeug und Gerät beendeten regional gewachsene Unterschiede. Die zwangsweise Auflösung des Deutschen Feuerwehrverbandes 1936 verdeutlicht dabei die drastische Verstaatlichung der Feuerwehren. Die freiwilligen Feuerwehren wurden vom bürgerlichen Verein zur ‚Hilfspolizeitruppe‘, die Berufsfeuerwehren wurden Bestandteil der Polizei. Vom Reichstagsbrand über die Verbrennung von Büchern und ‚entarteter Kunst‘, bei Synagogenbränden in der ‚Reichskristallnacht‘, im Bombenkrieg an der Heimatfront, in den Feuerwehrregimentern hinter der Front und in den Konzentrationslagern – immer wieder spielten die Feuerwehren eine Rolle im NS-Staat. Während andere Organisationen ihre Geschichte im Dritten Reich bereits beleuchtet haben, war dies bei den deutschen Feuerwehren bisher nicht der Fall. Einzelne qualitätsvolle Veröffentlichungen mit thematischen oder regionalen Schwerpunkten sind vorhanden. […]“

Historische Auseinandersetzung

Zahlreiche Feuerwehren und einige Feuerwehrverbände feiern zurzeit ihr 150-jähriges Bestehen und erstellen entsprechende Festschriften und Broschüren. In der geschichtlichen Aufarbeitung der Zeit des Dritten Reiches von 1933 – 1945 ist darin eine Sache auffällig: Alle beschreiben den Wandel vom demokratischen Verein mit einer gewählten Wehr- oder Verbandsleitung zur Durchsetzung des Führerprinzips mit von staatlichen Organen eingesetzten Führungspersonen. Bei den Verbänden kommt noch der Fakt der schleichenden Entmachtung durch Gesetze und einige Runderlasse des preußischen, später des Reichsinnenministeriums dazu. Ergänzend wird dabei noch die Verstaatlichung der Feuerwehr und ihre Eingliederung in die Polizei geschildert. Man beschränkt sich also auf eine Beschreibung der organisatorischen Veränderungen nach Gesetzes- und Vorschriftenlage. Zum Verständnis der damaligen Situation und Vorgänge ist dies sicherlich notwendig.

Mit dem Ermächtigungsgesetz vom März 1933 und den Rassegesetzen wurden die persönlichen Freiheiten und bürgerlichen Grundrechte immer weiter eingeschränkt. Davon betroffen waren auch Feuerwehrleute.

Auf die sich daraus ergebenden Schicksale andersdenkender oder andersgläubiger Angehöriger der Feuerwehren oder Verbände wird in den Publikationen mit keiner Silbe eingegangen. Die Verfolgung und Ausgrenzung von politisch andersdenkenden oder jüdischen Kameraden wird in den meisten Büchern und Broschüren nicht einmal erwähnt.

Täter oder Opfer?

In seinem Vortrag bei der genannten Tagung von 2012 gibt Rolf Schamberger, Leiter des Deutschen Feuerwehrmuseums in Fulda, dazu eine Annäherung. Anhand eines Fotos von einer Polizeirazzia am 15. März 1933, bei der die Feuerwehr in Amtshilfe mit einer Drehleiter tätig ist, um bei der Verhaftung von Andersdenkenden zu helfen, versucht er, die möglichen Gefühlslagen der Feuerwehrleute auszuloten:

„Einschlägige Erfahrungen mit dem Terror der nationalsozialistischen Gestapo oder adäquaten Dienststellen des erst im Aufbau befindlichen Regimes einschließlich der daraus resultierenden persönlichen Folgen bis hin zur Folter liegen zu diesem Zeitpunkt kaum vor. Die Frage nach den persönlich im Rahmen dieses Einsatzes empfundenen Gefühlen der beteiligten Feuerwehrleute (Genugtuung, Abscheu, Angst, Mitleid, innerliche Teilnahmslosigkeit, Bewusstsein über die persönliche Beteiligung an diesem Unrecht, …) muss mittlerweile für immer unbeantwortet bleiben. Dieses Fotodokument zeigt beispielhaft auf, wie sehr es vernachlässigt wurde, geschichtliche Vorkommnisse rechtzeitig durch unmittelbar involvierte Zeitzeugen persönlich dokumentieren zu lassen.

Zur Rolle der Feuerwehren in der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 (im nationalsozialistischen Jargon als „Reichskristallnacht“ bezeichnet), bei der zahlreiche Synagogen in Flammen aufgingen, führt Schamberger aus:

„Diese von langer Hand seitens des NS-Regimes vorbereitete und seitens seiner Helfershelfer und Anhänger durchgeführte Aktion wird als spontane Reaktion des deutschen Volkes auf die Ermordung des deutschen Gesandtschaftrates Ernst von Rath durch den polnischen Juden Herschel Grynspan am 9. November 1938 ausgegeben.

Zum ersten Mal in ihrer damals bis zu 90-jährigen Geschichte verweigern die meisten der betroffenen, seitens des Regimes zu polizeilichen Exekutivorganen umgewandelten Feuerwehren ihren Mitbürgern ‚auf Anordnung von oben‘ die Hilfe und schützen lediglich die umliegenden Gebäude vor dem Übergreifen der Brände.

Wir wissen nicht, was damals in den Köpfen der Feuerwehrleute vorgegangen ist. Je nach persönlicher politischer Einstellung und geistigem Horizont können die Gefühle zwischen Entsetzen über das offenkundige Unrecht an hilflosen Mitbürgern und schadenfroher Zufriedenheit gegenüber dem im NSRassenwahn als Feindbild propagandierten jüdischen Bevölkerungsanteil geschwankt haben. Für eine Befragung der Zeitzeugen, vor allen Dingen derjenigen, die in Führungspositionen Verantwortung für die Einsätze trugen, ist es zu spät.

Tobias Engelsing hat […] in seiner 1990 veröffentlichten Dissertation über die Sozialgeschichte der Freiwilligen Feuerwehr von 1830 – 1950 das Verhalten als ein ‚Gemisch aus Angst und Befehlszwang‘ definiert. Engelsing kommt zu dem Schluss, dass es nur selten überzeugter Fanatismus war, der die Feuerwehren von der Erfüllung ihrer Aufgaben abhielt. In der Regel war es wohl die Angst vor Sanktionen und die über Generationen anerzogene Befehlshörigkeit, die Feuerwehrkommandanten, Löschzugführer und einzelne Feuerwehrleute dazu brachte, den Wasserstrahl der Schläuche nicht auf die brennenden Synagogen, sondern allenfalls auf benachbarte Gebäude zu richten.‘“

Schamberger kommt zu folgendem Fazit: „Hinter den Feuerwehren standen wie heute noch Menschen unterschiedlichster sozialer Herkunft und Gesinnung. Die Feuerwehren stellten und stellen einen sozialen Querschnitt durch die gesamte Bevölkerung dar. Begeisterte Anhängerschaft wie innere Ablehnung des NS-Regimes prägten damals ihr Bild ebenso wie stillschweigendes Mitläufertum.

Wir dürfen nicht von ‚der‘ Feuerwehr sprechen, sondern von ‚den‘ Feuerwehren. Ungeachtet des durch gesetzliche Vorgaben zunehmend eingeschränkten Handlungsspielraums hing bei der Umsetzung auf lokaler Ebene immer noch vieles von der Persönlichkeit der innerhalb der Wehr tonangebenden Führungskräfte und deren individuellem Geschick ab, den immer enger werdenden Rahmen ‚kreativ‘ zu nutzen.“

Fehlende Aufarbeitung

Aufgrund der Verstrickung, auch in Unrechtstaten, war eine Aufarbeitung durch die beteiligten Feuerwehrangehörigen und auch die nachfolgende Generation nicht möglich. Die Verstrickung führte zu Verdrängung und Schweigen. Diese Mauer des Schweigens hält vielerorts bis heute und führt zu einer Tabuisierung des Themas. Erst in den letzten 20 Jahren begann eine stärkere Auseinandersetzung mit dieser Zeit.

Eine Aufarbeitung der Schicksale jüdischer Feuerwehrleute ist heute besonders schwierig. Sie wurden gemieden, denunziert und letztendlich aus der Feuerwehr ausgeschlossen. Auch die wenigen Überlebenden und deren Nachkommen sind inzwischen verstorben und die Dokumente oft lückenhaft. Einige dieser Schicksale sind Teil der Ausstellung im Deutschen Feuerwehrmuseum in Fulda (siehe Infokasten).

Ein jüdisches Leben

Einen Versuch unternahm das Team des Archivs der Feuerwehr Mannheim und stellte Informationen zu Lion Wohlgemuth zusammen.

Lion Wohlgemuth wurde am 14. Mai 1871 in Mannheim geboren und trat 1890 in die Freiwillige Feuerwehr Mannheim ein. Durch Fleiß, gutes Auffassungsvermögen und Beharrlichkeit arbeitete er sich vom Angehörigen der Arbeiterabteilung bis zum Obmann der Steigerabteilung (Leitermannschaft) empor. Bei der Erstinbetriebnahme einer großen fahrbaren Ausziehleiter gab er den Befehl, die Leiter anzusteigen. Nachdem aber keiner seinem Befehl nachkam, wurde er stutzig, erinnerte sich aber schnell, dass bei neuen Geräten, insbesondere Leitern, das erste Mal der Führer der Abteilung nach altem Brauch selbst ansteigen muss. In seiner Freude über das neue Gerät hatte er dies ganz übersehen. Er stieg aber sofort, ohne zu zögern, die Leiter exakt an. Zuschauer aus der Bevölkerung haben damals geäußert:

„Der schwarze Jud hat aber Mut!“. In der ehemaligen Kurpfalz waren um 1900 Spitznamen, speziell in Männerdomänen, sehr verbreitet. Sie waren unabhängig von sozialem Stand und Religion. Oft waren sie derb und selten schmeichelhaft. Lion Wohlgemuth erhielt seinen Spitznamen aufgrund seiner rabenschwarzen Haare.

Vom Obmann der Steigerabteilung stieg er noch bis zum Adjutanten auf. Adjutanten kamen in der Reihenfolge direkt nach dem Kommandanten und dessen Stellvertreter.

Unterstützer und Mäzen

Aus beruflichen Gründen beendete er seinen aktiven Dienst im Jahre 1920. Er wurde daraufhin zum Ehrenadjutanten ernannt und durfte seine Uniform behalten.

Wohlgemuth heiratete am 5. August 1897 Melanie Gutmann und war damit in die Herstellung und den Großhandel von Putzwaren und Hüten eingestiegen. Als Kaufmann war er sehr erfolgreich und das Unternehmen, mit zahlreichen Filialen, beschäftigte um 1925 ca. 500 Menschen. Es kam unter seiner Leitung zu einer großen Erweiterung des Betriebs in Mannheim. Er gab den Bau des damals größten und modernsten Geschäftshauskomplexes für ganz Baden in Auftrag. Der berühmte Frankfurter Architekt Fritz Nathan ließ es in zwei Bauabschnitten von 1927 – 1929 erbauen.

Wohlgemuth war schon lange nicht mehr im aktiven Dienst, es dürfte 1928 gewesen sein, als eine Corps-Versammlung der FF (in Uniform) stattfand. Auch Ehrenadjutant Wohlgemuth erschien in Uniform. Während der Gespräche ließ er verlauten, dass er sofort nach Beendigung der Versammlung im Nachtflug von Mannheim nach Berlin fliegen würde, wo eines seiner Geschäftshäuser stand. Die ungläubige Fragestellung aus der Runde beantwortete er damit, dass er sich im Flugzeug umziehen werde. Lion Wohlgemuth war Feuerwehrmann mit Leib und Seele, dass er einmal in Zivil gekommen wäre, war für ihn indiskutabel.

Lion Wohlgemuth war auch ein großzügiger Unterstützer und Mäzen der FF Mannheim. Am 1. Dezember 1913 schrieb die „Neue Badische Landeszeitung“ unter der Überschrift „Der Feuerwehrball“: „Der neuernannte Adjutant Wohlgemuth hat ein eigenes aus 50 Gewinnen bestehendes Arrangement gestiftet“.

In den Jahren 1926 – 1930 spendete er zu jedem Mannheimer Feuerwehrball im November jeweils einige Hundert Tassen und Untertassen mit der Aufschrift „Feuerwehrball Mannheim“ und der Jahreszahl.

Ausgrenzung

Jedoch fand aller Einsatz für die Feuerwehr und somit auch für die Stadt Mannheim bei den Nationalsozialisten keine Anerkennung. Mit ihrer Machtergreifung begann die Leidenszeit Wohlgemuths. Das Kommando der FF musste ihm als Juden nahelegen, freiwillig aus der Feuerwehr auszutreten. Die FF aber war neben dem Beruflichen sein Lebensinhalt. Es bedurfte schon mehrfacher Ermahnungen, bis er sich endlich entschloss auszuscheiden und die Uniform abzugeben.

Am 23. April 1938 erfolgte nach etwa zweijährigen zähen Verhandlungen der Verkauf seiner Mannheimer Hutfabrik Wohlgemuth (Herstellung und Großhandel von Filz- und Strohhüten) inklusive Grundstück und Gebäudekomplex an Heinrich Vetter senior, der in dem Gebäude ab 1936 ein Kaufhaus betrieb.

Nach dem Ausscheiden aus der Feuerwehr ist von Zeitzeugen schriftlich folgende Aussage von Lion Wohlgemuth überliefert: „Jetzt habe ich nichts mehr, was mich auf dieser Welt hält.“

Vielleicht sah er aufgrund der „Verordnung über Reisepässe von Juden“ vom 5. Oktober 1938 auch keine Möglichkeit mehr für eine Flucht. Denn deren Pässe wurden für ungültig erklärt und eingezogen oder mit einem Judenstempel versehen. Damit wurde ein unbemerkter Grenzübertritt im visafreien Grenzverkehr unmöglich.

Die Verzweiflung muss ihn ganz besonders erfasst haben, denn trotz seiner Geschäftshäuser im Ausland, welche ihm ein Absetzen erleichtert hätten, und trotz Frau und zweier (erwachsener) Kinder, stürzte er sich am 15. Oktober 1938 von seinem Geschäftshaus in Mannheim in N 7,4. (Die Innenstadt von Mannheim ist in Quadrate eingeteilt. Diese sind anstelle von Straßennamen mit Buchstaben und Ziffern benannt.) Die Wohnung der Familie Wohlgemuth befand sich in G 3,1.

Es ist somit unschwer nachvollziehbar, dass sein Selbstmord eindeutig in direktem Zusammenhang mit dem Ausschluss aus der Freiwilligen Feuerwehr Mannheim steht. Sein Grab befindet sich auf dem jüdischen Friedhof in Mannheim.

 

Literatur:

Vereinigung zur Förderung des Deutschen Brandschutzes e. V. (vfdb), Referat 11 Brandschutzgeschichte (Hrsg.): Zwischen Gleichschaltung und Bombenkrieg. Tagungsband zum Symposium am 8./9. Dezember 2012 zur Geschichte der deutschen Feuerwehren im Nationalsozialismus 1933 – 1945. 2. Auflage 2013.
Landesfeuerwehrverband Niedersachsen (Hrsg.): 150 Jahre Landesfeuerwehrverband Niedersachsen 1868 – 2018. Sonderband: wwDas niedersächsische Feuerwehrwesen 1933 – 1945. 1. Auflage 2018.
Landesfeuerwehrverband Baden-Württemberg (Hrsg.): Miteinander – Füreinander. 150 Jahre Landesfeuerwehrverband Baden-Württemberg. 2. Auflage 2014.

Rainer Straßel/Archiv Feuerwehr Mannheim,
Stefan Wagner

 

Foto (Beitragsübersicht): © Archiv Feuerwehr Mannheim

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